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Die Zukunft der Gesundheit

Männer und Frauen sind biologisch und physiologisch unterschiedlich, das ist so banal wie klar. Dass sie unterschiedliche Sozialisationen prägen, dürfte ebenso unumstritten sein. Aber was bedeutet das für die gesundheitliche Versorgung, für Medizin und Forschung, für die Krankenkassen oder für die Willensbildung bei Leistungs- und Richtlinienentscheidungen? Ist es nicht Zeit für mehr Diversität auch in Medizin und Gesundheitsversorgung? Über einige dieser Fragen und die Haltung der mkk sprach unsere Vorständin Andrea Galle mit dem Magazin "Welt der Krankenversicherung"

Was ist geschlechtsspezifische Medizin? - Die wichtigsten Punkte im Überblick:

  • Gibt es Männerkrankheiten und Frauenleiden?

  • Warum Arzneimittel bei Frauen anders wirken

  • Wo liegen die Chancen der künstlichen Intelligenz (KI)?

  • Beipackzettel - alles eine Frage der Kommunikation?

Interview mit "Welt der Krankenversicherung"

Portrait von Andrea Galle, Vorstaendin der Krankenkasse BKK VBU

Liebe Frau Galle, Zukunft Gesundheit ist regional, vernetzt, patientenzentriert. Sie sollte aber auch geschlechterzentriert sein. Und Sie haben auf Ihrer Webseite geschrieben, dass es Zeit sei für mehr Diversität in der Medizin.

Zu den Fragen:

Warum kommen Sie als Chefin einer Krankenkasse auf dieses große Thema?

Nun haben Sie schon viele Aspekte angesprochen. Wenn wir über Patientenzentrierung sprechen und auch über Diversität, dann kommt man eigentlich gar nicht umhin, sich auch den Fragen geschlechtsspezifischer oder auch geschlechtssensibler Versorgung zu widmen und diese auch anzustreben. Warum? In einer patientenzentrierten Versorgung geht es uns um den Therapieerfolg. Es geht uns auch darum, eine gute Compliance zu erreichen. Und am Ende zielt das auf eine gute Lebensqualität ab. Dabei sind wir dann nicht mehr weit davon entfernt zu fragen, wie denn eine individualisierte Versorgung aussehen muss. Dies wiederum führt uns sehr nah an das Thema Geschlechtsspezifik oder Geschlechtssensibilität. Was mir aber am Anfang wichtig ist: Hier geht es nicht um Gendermedizin als politisch korrektes Verhalten. Das ist kein reines Frauen-Thema. Geschlechtsspezifische Medizin zielt vielmehr darauf ab, dass man dem eigenen Geschlecht nach adäquat versorgt wird.

Seit geraumer Zeit stellt sich mir die Frage, wieso diese Spezifik in der medizinischen und gesundheitlichen Versorgung, von Prävention über Behandlung, Rehabilitation und Pflege eigentlich nicht regelhaft im Blick ist. Es ist trivial, woran liegt das?

Das ist wohl historisch gesehen sowohl gesellschaftlich als auch kulturell bedingt. Wie in vielen Bereichen wird im Gesundheitssystem und in der Medizin in erster Linie vom Mann her gedacht. Vielleicht auch deswegen, weil Medizin und Gesundheit bis in die Entscheidungsstrukturen hinein immer noch stark männlich dominiert sind. Wenn wir genau hinsehen, fußt im Grunde vieles an Behandlungsansätzen, auch in der Pharmakotherapie auf männliche Durchschnittskonstellationen: 1,78 groß, 75 Kilo usw. – das scheint Standard und Norm zu sein.

Da fallen aber viele durchs Raster…

Ja, da werden viele durchs Raster fallen. Ich will es einmal beispielhaft verdeutlichen: Wir wissen aus der Arzneimittelforschung, dass man viel mit männlichen Probanden forscht, sogar Versuchstiere werden ausdrücklich eher männlichen Geschlechts angefordert. Selbstverständlich spielt dabei auch das Thema Schutz von Frauen – z.B. weil sie schwanger werden könnten - eine Rolle. Folge ist, dass sie von daher gesehen schon weniger im Fokus der Forschungsdesigns stehen. Aber am Ende ist das natürlich kontraproduktiv, weil wir zu Frauen überhaupt keine nennenswerten Datenlagen haben. Und interessanterweise – wenn man sich einmal darauf fokussiert hat – begegnet uns das Thema in aktuellen Zusammenhängen immer öfter. So hatten wir gerade zum Beispiel eine große Diskussion rund um den Impfstoff von AstraZeneca und dem damit verbundenen Thema "Thrombose-Gefahr". Wir wissen aber auch, dass bei Einnahme der Antibabypille das Risiko, eine Thrombose zu erleiden, um ein Vielfaches höher ist. Und das nehmen wir seit Jahrzehnten billigend in Kauf. Ich wünsche mir, dass vorhandene Erkenntnisse einfach stärker genutzt werden, und zwar nicht nur zum Wohle von Frauen, sondern im Grunde zum Wohle von beiden Geschlechtern.

Was müsste denn passieren, dass dieser Blickwinkel in Zukunft besser berücksichtigt wird? Fängt das bei der Forschung an? Geht das bis in die Medizin? Oder ist das mehr in den Willensbildungsgremien anzusiedeln?

Das Thema ist komplex und hat viele Facetten. Es betrifft einerseits die Forschung und Lehre. Obwohl wir rund 63 Prozent weibliche Studierende in der Medizin zählen, ist es in der Lehre mit nur 13 Prozent von Frauen besetzter Lehrstühle krass umgekehrt . Wir brauchen aber auch mehr Diversität in der Medizin. Die Medizin ist historisch gesehen eine klare Männer-Domäne. Erst kurz vor der Jahrhundertwende um 1899 wurden Frauen zum Medizin- und Pharmaziestudium zugelassen und offenbar ist der Zeitraum zu kurz, um zu ausgeglicheneren Sichtweisen zu gelangen Auch im Jahr 2021 sind die Informationen, mit denen Algorithmen programmiert und künstliche Intelligenz gefüttert werden, von der männlichen Sichtweise bestimmt. Das führt zu einem Gender-Data-Gap. Schauen wir andererseits auf die Entscheidungsebenen, sind weibliche Führungskräfte in der Gesundheitswirtschaft nach einer aktuellen PwC-Studie im letzten Jahr mit einem 29-Prozent-Anteil sogar noch einmal rückläufig. Etwa 90 Prozent der Lehrstühle und Klinikdirektionen sind von Männern besetzt, 9 von 10 Forschungsbereichen an Universitäten werden von einem Mann geleitet. Dagegen werden 70 Prozent der praktischen Arbeit in Gesundheits- und Pflegeberufen traditionell von Frauen verrichtet. Es muss sich also sowohl in Forschung und Lehre wie auch in der Versorgungspraxis und den Entscheidungsgremien der Frauen-Anteil deutlich erhöhen. Der weibliche Blick fehlt zu sehr – auch im Interesse beider Geschlechter.

Würde sich denn durch die Veränderung der Willensbildungsgremien zugunsten der weiblichen Anteile allein schon etwas ändern?

Das Thema ist natürlich komplex und von alleine wird sich die Situation nicht ändern. Sie und ich, lieber Herr Stuppardt sind ja selbst in Gremien mit sehr hohen männlichen Anteilen groß geworden. Mir als Frau ging es anfangs nicht anders, ich war wirklich häufig die einzige Frau in den Gremien. Ich glaube, dass Frauen Themen einfach anders setzen und es kann wirklich bereichernd sein, den weiblichen Blickwinkel stärker mit einzubeziehen. Umgekehrt wäre aber auch ein rein weiblich besetzter Entscheidungskreis ebenso wenig zielführend. Ich gebe mal ein Beispiel aus meiner praktischen Erfahrung. Ich war Mitglied in einem Gutachtengremium, dass sich um Projektförderung kümmerte. Wir waren zwei Frauen in einem sehr großen Kreis von Männern, die vor allem alles Technisch-Hochwissenschaftliche spannend fanden. Bei einem Projekt für Prävention in Pflegeeinrichtungen mit Demenzkranken erlahmte dann die Begeisterung. Es lag keine böse Absicht dahinter, es erschien ihnen im Gegensatz zur Grundlagenforschung zuvor einfach nicht relevant genug. Ich habe mich dann für das Präventionsprojekt mit Hinweis auf die praktische Relevanz und Betroffenheit und auch auf die gesellschaftliche Bedeutung stark gemacht. Am Ende zog aber eher das "Geld-Argument" mit dem Hinweis darauf, dass die Pflegekassen für Prävention in Pflegeeinrichtungen jährlich viele Millionen Euro zu finanzieren haben: Das war dann relevant. Ich werbe dafür, dass es gute, gemischte Entscheidungsstrukturen gibt, mit Männern und Frauen in etwa gleichen Anteilen.

Was ich bei den Recherchen interessant fand: In der Schweiz sind kürzlich Fachbeiräte von Männern und Frauen mit dem Ziel gendergerechter Entscheidungsfindung z.B. bei Zielen und Budgetplanungen ins Leben gerufen worden. Wie sehen Sie das?

Das ist ein guter Aspekt. Alles, was dazu beiträgt, dass Bewegung in dieses Thema kommt, kann man nur begrüßen. Man kann sich auch im Jahre 2021 nicht mehr mit Nichtwissen rausreden. Es sind nach meiner Wahrnehmung allein im vergangenen Jahr so viele Publikationen wir noch nie zu diesem Thema erschienen. Das RKI hat zur gesundheitlichen Lage von Frauen in Deutschland berichtet. Selbst die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat einen Bericht vorgelegt zur Diskriminierung im Gesundheitswesen und dort gibt es auch Aussagen zu Männern und Frauen. Wir haben ein Gutachten des BMG aus dem vergangenen Jahr, wenn ich recht erinnere, zum Thema "Gender in Forschung und Lehre" und es gibt zahlreiche Initiativen.

Das deckt sich mit meiner Wahrnehmung. Input gibt es reichlich.

Aber ich glaube zudem, dass es noch ein Stück weit darüber hinaus gehen muss. Wenn wir über Geschlechtssensibilität reden, bedeutet das für mich, dass wir lernen müssen, Männer und Frauen auch unterschiedlich anzusprechen. Männer und Frauen reagieren auf die gleiche Ansprache unterschiedlich.

Sie halten also den adressatengerechten Kommunikationsaspekt für wichtig?

Ja, unbedingt. Wenn wir z.B. in der Prävention mehr bewegen wollen, dann müssen wir Frauen anders ansprechen als Männer. Beim Klagen darüber, dass Männer Vorsorgemuffel sind, müssen wir auch kritisch hinterfragen, ob wir sie eigentlich richtig ansprechen. Wir brauchen eine differenzierte Zielkundenansprache, was unsere Aufsicht im Übrigen regelmäßig negiert. Wir Krankenkassen wurden z.B. darauf hingewiesen, Zielgruppenansprache sei Risikoselektion. Für mich sind das zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Das bringt mich dann nun auch auf die Rolle von Krankenkassen im Gender-Zusammenhang.

Das ist gut. Sie sind verantwortlich für eine große Betriebskrankenkasse. Wie gehen Sie mit unserem Thema um? Was machen Sie als Kasse?

Zunächst einmal haben wir Krankenkassen einen gesetzlichen Auftrag zu diesem Thema und der ist im § 2b SGB V verankert. Krankenkassen haben danach geschlechtsspezifischen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Das ist mindestens seit sechs Jahren eine wichtige Richtschnur, an die wir uns zu halten haben. Wir erleben aber in der Realität, dass sich das größtenteils nicht implementiert hat. Wir in der mkk nehmen das Thema ernst und zwar so ernst, wie wir auch eine nachhaltige Unternehmensführung leben. Und von daher ist das auch kein Thema, was wir nur im Gesundheitsversorgungsbereich oder im Vertragsbereich anfassen, sondern in allen Funktionalitäten unseres Hauses. Auf diese Weise haben wir auch das Thema "Nachhaltigkeit" implementiert, mit einem guten Corporate-Social-Responsibility-Aspekt, und so ist auch das Thema "Geschlechtsspezifik" hier im Hause etabliert. Es kann auch nur der Weg sein, es ganzheitlich zu betrachten.

Vorbildlich. Ist das Thema aber nicht ein Wissens- und Informationsproblem? Müssen wir nicht viel dafür tun, dass diejenigen, die es angeht, Wissen in dieser Thematik generieren, um in der Arzt-Patienten-Kommunikation Ansprüche deutlich zu machen?

Ja, absolut. Ich habe daher auch das Thema Kommunikation als ein sehr wichtiges hervorgehoben. Um richtige Entscheidungen zu treffen und adäquat agieren zu können, braucht es Gesundheitskompetenz. Das gilt für die Basisinformationen, die Kund:innen, Patient:Innen, Krankenversicherte heute benötigen, damit sie in der Lage sind, für sich adäquat zu agieren. Ich glaube, dass die Gesundheitswirtschaft einen Großteil von Bringschuld in dieser Frage hat. Das fängt z.B. bei den Beipackzetteln an. Wo finden Sie heute einen Hinweis darauf, dass ein Medikament bei einer Frau anders verstoffwechselt wird, dass vermutliche Überdosierungen beachtet werden müssen und vieles anderes mehr? Das ist nicht der Fall. Viele Dinge werden in dieser Richtung einfach nicht hinterfragt. So ist bekannt, dass Frauen auf Anästhetika anders reagieren und z.T. schlechter darauf ansprechen als Männer. Sie haben vielfach nach der Anästhesie sehr viel stärkere Probleme. Das ist bekannt und wird in Kauf genommen, es wird schlicht nicht hinterfragt.

Ich habe irgendwo auch zur Kenntnis genommen, dass die unerwünschten Nebenwirkungen bei Frauen massiver auftreten als bei Männern, ist das Ihrer Erfahrung nach so?

Ja, z.B. weil der Stoffwechsel der Frau sehr viel langsamer ist und dadurch die Wirkstoffe sehr viel länger im Körper verbleiben und das wird in der Regel bei der Dosierung nicht berücksichtigt, ebenso wenig wie hormonelle oder konstitutionelle Faktoren Die Gefahr, überdosiert zu sein, ist für Frauen deutlich höher. Und es gibt weitere Aspekte. Ein bekanntes Thema ist der Herzinfarkt. In einer aktuellen Studie aus Kanada ging es um den STEMI-Infarkt, bei der festgestellt wurde, dass Frauen im Krankenhaus häufiger versterben als Männer. Da dies rein statistisch nicht zu erklären war, kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss, ein geschlechtsspezifischer Hintergrund verantwortlich sei. Und was umgekehrt für Männer wichtig wäre: Frauen haben in bestimmten Indikationen auffällig weniger Erkrankungshäufigkeiten. Das wird zu wenig erforscht. Dabei liegt es vermutlich nahe, dass Männer auch davon profitieren könnten, zum Beispiel warum Frauen von bestimmten Krebserkrankungen weniger häufig als Männer betroffen sind.

Hört sich logisch an…

Ganz richtig. Darüber hinaus sind die bekannten Themen zum Beispiel "Osteoporose", was lange in Verbindung mit Frauen gebracht, bei Männern aber vernachlässigt wurde. Oder das ambivalente Thema "Depression": Hier werden Frauen bei Erkrankungen schneller in die "psychologische Schublade" geschoben, bei Männern hingegen wird die Erkrankung Depression weniger diagnostiziert, weil Männer in dem Zusammenhang ganz andere Symptomatiken zeigen.

Und in anamnestischen Gesprächen sich vermutlich auch ganz anders äußern…

Richtig. Wir sehen gerade bei psychischen Erkrankungen, dass die Kommunikationsbarrieren bei Männern viel stärker ausgeprägt sind, gerade in bestimmten Berufsgruppen oder Lebenssituationen. Auch wenn die Gesellschaft psychischen Erkrankungen gegenüber aufgeklärter ist, gilt häufig noch: Auf dem Dorf zum Beispiel möchten Sie als Mann nicht gesehen werden, wenn Sie durch die Türe eines Psychotherapeuten gehen. Auf der anderen Seite ist jüngst feststellbar, dass Online-Psychotherapien dann eben von Männern auch durchaus genutzt werden. Wir müssen hier Kanäle und Angebote geschlechtsspezifischer Art schaffen. Hier sind wir noch nicht sensibel genug.

Ein Themenkomplex also, der für Sie in der Leistungs- und Geschäftspolitik sehr im Fokus steht?

Für uns steht das in der Tat sehr im Fokus. Aber es läuft nicht durch uns allein. Nach meiner Überzeugung ist das kein Marketing- oder Wettbewerbsthema. Es verhält sich ähnlich wie bei den Themen "Nachhaltigkeit" oder CSR. Das sind Themen, in denen man Mitstreiter braucht, damit es gemeinsam voran geht. Wir verstehen uns hier nur mehr als Impulsgeber und versuchen das mit unseren Mitteln in der Kasse umzusetzen. Aber auch in unseren Partnerschaften und im Rahmen unserer Kooperationen. Unser BKK Dachverband hat im Zusammenhang mit den Bundestagswahlen die Anregung gegeben, ob angesichts der Herausforderungen, vor denen das Gesundheitswesen steht, nicht auch das SGB V neu geschrieben werden müsse. Das Thema Geschlechtsspezifik gehört da unbedingt hinein, denn es erschließt sich nicht in Konkurrenz, sondern nur im Schulterschluss. Und weil Sie eingangs die patientenzentrierte Versorgung angesprochen haben: Ich glaube, wir würden heute das SGB V viel stärker aus der Perspektive der Patientinnen und Patienten schreiben. Die sonstigen Akteure des Gesundheitswesens hätten dann weiterhin ihre Aufgaben, aber mit anderen Rollen und Funktionen für einen deutlich differenzierteren und weiter gefassten Gesundheitsbegriff.

Inwiefern?

Der Gesundheitsbegriff wird heute anders diskutiert, als vor 30 Jahren. Sehen Sie das Thema Umwelt. Was ist mit dem sozialen Umfeld? Vieles, was unser Leben bestimmt, tangiert signifikant die Gesundheit. Das muss praktisch angefasst und gestaltet werden. Und da scheint unser Sozialgesetzbuch noch deutlich anpassungsfähig. Apropos Stichwort Umwelt. Ich habe kürzlich in einem Schreiben des Bundesamts für Soziale Sicherheit (BAS) zur Kenntnis nehmen müssen, "Für Umwelt sind Krankenkassen nicht zuständig". Das fand ich Anfang Oktober 2021 angesichts der offensichtlichen Erkenntnisse und Datenlagen wie sich Umwelt- und Klimafolgen nachweislich auf Gesundheit und Krankheitshäufigkeiten auswirken -, gelinde gesagt "bemerkenswert".

Ich möchte noch einen weiteren auffälligen Aspekt in unserem Gespräch aufgreifen. Nämlich die Differenzierung Alter und Soziale Lage. Hat das im Zusammenhang mit der Geschlechtsspezifik nicht auch mehr Aufmerksamkeit verdient?

Genau das ist es, was ich in solchen Gesprächen immer wieder feststelle. Ist der Impuls erst einmal gesetzt, dann fällt auf, dass Menschen tatsächlich Individuen in spezifischen Zusammenhängen sind. Und wir neigen häufig dazu, alles in einen Topf zu werfen und einmal umzurühren. Wenn wir Medizin und Versorgung im Sinne von mehr Compliance und Adhärenz weiterentwickeln wollen, dann sollten wir so viele Einfluss-Faktoren wie möglich einbeziehen. Chancen und Potentiale sind dank Digitalisierung und KI-basierten Systemen vorhanden. Hier ist sicher wesentlich mehr möglich, zu berücksichtigen. Aber irgendwo sollten wir auch praktisch anfangen. Und ich glaube, Geschlechtsspezifik und Geschlechtssensibilität ist ein guter Einstieg. Das wird mit weiteren Aspekten anzureichern sein, ohne dabei in alte Fehler zu verfallen. Also realiter zu differenzieren, keinen Gender-Bias produzieren, nicht zu viel auf einmal wollen, mindestens den Indikator Geschlecht in den Datenauswertungen als relevant ansehen. Das sollte für alle modernen Tools bis hin zu Apps gelten.

Ist das bei Letzteren nach Ihrer Beobachtung noch nicht ausreichend?

Wir haben mehr Indizes, dass dies nicht der Fall ist. Die Hersteller kommunizieren die Gender-Thematik auch nicht. Die Vorgaben und Anforderungen an die Qualität der Programme sollten das unbedingt aufgreifen und wo nötig korrigieren.

Gut. Dann würde ich gern noch einmal auf die Ebene Ihrer praktischen Aktivitäten in unserem Themenzusammenhang zu sprechen kommen. Was macht die mkk in diesem Feld? Was läuft projekt- oder förderungsmäßig?

Zum einen verfolgen wir federführend ein Innovationsfondsprojekt, bei dem es um das chronische Fatigue Syndrom geht, geschlechtsspezifisch und in Verbindung zu Long-COVID. Hier sind viele Fragen noch unbeantwortet, die wir uns gemeinsam mit unseren Partnern Charité, BAHN-BKK und SBK vorgenommen haben. Ziel ist es, auf Basis einer Forschungsstudie unter Leitung von Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen von der Charité und einem interdisziplinären Team aus Neurologie, Schlafmedizin, Sportmedizin u.a.m., ein innovatives und interdisziplinäres Versorgungskonzept zu entwickeln.
Des Weiteren interessiert uns das Thema digitaler Medikamentendruck. In diesem gemeinsamen Projekt mit der Firma DiHeSys geht es um individualisierte Medikamentengaben aus dem 2D- bzw. 3D-Drucker. Hier sehen wir die Chance, in bestimmten Indikationsfeldern individuelle und somit auch geschlechtsspezifisch berechnete Wirkstoffgaben verabreichen zu können. Nebeneffekt: Es trägt dazu bei, nachhaltiger zu sein und Pharmamüll zu vermeiden. Produziert wird das Ganze in Deutschland und nicht etwa in China.
Auch im Thema Gesundheitskompetenz sind wir divers unterwegs und insbesondere mit der Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz sehr auf unsere Kunden ausgerichtet. Dazu gehört auch – weil Sie vorhin das Thema Alter angesprochen haben – der Umgang mit Smartphone und Apps für Seniorinnen und Senioren.

Ja, über Ihre Kooperation mit dem Verein „Wege aus der Einsamkeit“ zu Online-Schulungen für Senioren haben wir schon schon in einem früheren Heft berichtet . Vorbildlich!

Richtig. Hier bauen wir erfolgreich Kompetenz geschlechts- und altersspezifisch auf. Und ansonsten ist die Geschlechterspezifik ein permanentes Kommunikationsthema und soll Bestandteil aller Checks in unserem Unternehmen sein. Etwa wenn wir Verträge schließen, was zum Beispiel auch Hersteller von digitalen Gesundheitsanwendungen betrifft, die sich direkt an uns wenden. Die bekommen immer die Frage, inwieweit sie unsere Gender-Thematik berücksichtigen und das nachweisen können. Wir wollen schließlich Qualitätsmedizin bezahlen und nicht mit Qualitätsabschlägen drohen, weil das nichts nutzt, denn am Ende könnten sich dabei wohlmöglich in jeder Hinsicht folgenschwere Behandlungsdefizite herausstellen.

Was vermutlich bereits so ist…

Das Fatale ist, wir wissen es nicht so genau. Ich sehe aber durchaus auch ein Effizienz- und Wirtschaftlichkeitspotential im Thema. Insbesondere dann, wenn es nicht im Wettbewerb, sondern im Schulterschluss aller Akteure angegangen wird. Unser Ziel ist es, etwas in den Köpfen der Menschen zu bewegen und durch Erkenntnisgewinn gemeinsam Veränderungen herbeizuführen. Wenn wir uns vor Augen führen, welch ungeheure Ressourcenverschwendung wir allein im Bereich der Arzneimittel vermutlich haben, weil wir mit der "Streusandbüchse" auf alles schießen - immer mit dem Argument, individualisierte Medizin sei in jedem Fall teurer. Ich glaube das gar nicht. Wenn wir in der Lage wären, gezielter und dosierter individuell zu versorgen, wird es möglicherweise Effekte geben, die Effizienzpotential haben. Aber noch wissen wir das so genau nicht.

Wenn Sie zielgerichtet die Dosierung in der Arzneimittelversorgung individuell gestalten, dann könnte das nicht nur therapeutisch gebotener sein, sondern auch wirtschaftlicher.

Das Stichwort führt mich dann noch zum Thema der Packungsgrößenverordnung. Gelernt habe ich, dass die Auseinzelung von Medikamenten derzeit an der Packungsgrößenverordnung scheitert. Die müsste geändert werden, das ist hierzulande ein spannendes, verwickeltes Thema. Aber wie schon einmal erwähnt, eigentlich müsste das SGB V neu geschrieben werden (lacht). Wir werden sehen.

Ja, wir werden sehen, wie es in der eigentlich ganz vorn im Gesetz gewünschten Anforderung an das "Rechnung tragen geschlechtsspezifischer Besonderheiten" weitergeht. So ein wenig steht das da vorne etwas abgehoben allein. Dabei geht es alle an. Aber ich habe in Vorbereitung unseres Gespräches auch den Eindruck, das Thema ist in der Gestaltungsrealität weiter angekommen. Vielen lieben Dank für das Gespräch und Ihnen und Ihrem Team ganz viel Erfolg.

Gesprächspartner von Andrea Galle war Herausgeber Rolf Stuppardt

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