Expertendialog ME/CFS (Chronisches Fatigue-Syndrom)
Unter der Leitfrage "Unerforscht, unterversorgt und unverstanden: Wie verbessern wir die Versorgung von Menschen mit ME/CFS?" luden mkk, SBK Siemens-Betriebskrankenkasse und BAHN-BKK zu einem digitalen Expertendialog ein. Vertreter*innen der Krankenkassen diskutierten gemeinsam mit Betroffenen sowie Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Politik, welche Akteure und Versorgungsangebote es braucht, um Menschen zu helfen, die unter ME/CFS leiden. Die Veranstaltung verfolgten 180 Menschen über den Livestream, darunter zahlreiche Mitglieder von Selbsthilfeorganisationen und Betroffene. Diese Zahl spiegelt auch das wachsende Interesse der Öffentlichkeit an dem Thema wider.
ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung
Myalgische Enzephalomyelitis (ME), auch bekannt als Chronisches Fatigue Syndrom (CFS), ist eine komplexe neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird häufig durch eine Infektionskrankheit wie zum Beispiel den Epstein-Barr-Virus ausgelöst und nimmt oft einen schweren Verlauf. Zu den Symptomen gehören neben einer schweren Fatigue auch Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Gelenk-, Muskel- und Kopfschmerzen.
Charakteristisch für ME/CFS ist die Post-Exertional Malaise. Das bedeutet: Schon nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung verstärken sich die Symptome deutlich für einen längeren Zeitraum. Bei Schwerstbetroffenen kann die Post-Exertional Malaise bereits durch das Umdrehen im Bett oder die Anwesenheit einer weiteren Person im Raum ausgelöst werden. Viele Menschen mit ME/CFS sind arbeitsunfähig und können ihren Alltag nicht mehr bewältigen.
Sonja Kohl ist betroffen von ME/CFS. Sie hat die Patienteninitiative „#MillionsMissing Deutschland“ mit aufgebaut und ist eine der Initiator*innen der #SIGNforMECFS-Petition an den Deutschen Bundestag: "An ME/CFS zu erkranken bedeutet meistens, alles zu verlieren, was ein Leben ausmacht. Viele der Betroffenen können nur noch zu Hause vor sich hinvegetieren. Kleinste Anstrengungen oberhalb der individuellen Belastungsgrenze – das sind oft sogar nur Sinnesreize – führen zur Krankheitsverschlechterung. Manche sind daher nicht einmal mehr in der Lage zu kommunizieren oder eigenständig zu essen. Wir ME/CFS-Patient*innen verschwinden somit aus unserem eigenen Leben.
Trotz der Schwere dieser Erkrankung gibt es für uns keine Behandlungsansätze und auch sonst keine medizinische Versorgung. Häufig werden unsere massiven Symptome von Ärztinnen und Ärzten nicht einmal ernst genommen. So fehlt uns jede Perspektive und jede Hoffnung auf Hilfe. Das muss sich ändern! ME/CFS muss endlich ernst genommen werden. Wir brauchen dringend Investitionen in Aufklärung, Forschung und Versorgung. Diese Forderungen unterstützen rund 100.000 Menschen mit ihrer Unterschrift für die von uns initiierte #SIGNforMECFS-Petition an den Deutschen Bundestag."
Mehr Forschung und Versorgungskonzepte werden dringend benötigt
Derzeit gibt es in Deutschland etwa 300.000 Menschen, die von ME/CFS betroffen sind – die Dunkelziffer ist erheblich höher. Da auch das Coronavirus ME/CFS auslösen kann, geht man davon aus, dass diese Zahlen noch deutlich steigen werden. Auch der zu erwartende Anstieg von Viruserkrankungen aufgrund von Klimawandel und Umweltveränderungen wird wahrscheinlich zu einer weiteren Zunahme führen. Trotz dieser Entwicklungen gibt es bislang keine angemessene Versorgung für Menschen mit ME/CFS.
Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen leitet das Fatigue Centrum an der Charité in Berlin und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit ME/CFS: "Wir brauchen dringend eine bessere und flächendeckende Versorgung von Menschen mit ME/CFS. Im ersten Schritt gilt es, die Versorgung in den bestehenden Strukturen wie klinischen Zentren, Reha-Einrichtungen, Fach- und Hausärzte zu verbessern. Die Herausforderung ist jetzt, die Zusammenarbeit dieser Strukturen nach den Bedürfnissen der Betroffenen auszurichten. Genau dort setzt das Versorgungsprojekt CFS_Care an."
Aktuell arbeiten die Charité-Universitätsmedizin Berlin, die mkk, SBK Siemens-Betriebskrankenkasse, BAHN-BKK und die Rehaklinik BAVARIA Kreischa gemeinsam an dem Innovationsfondsprojekt „CFS_Care“. Ziel ist es, Diagnose- und Therapiekonzepte zur Behandlung von ME/CFS zu erarbeiten, die langfristig in die Regelversorgung überführt werden können. Auch an Long COVID Erkrankte sollen hiervon profitieren. Alle Details zum Versorgungsprojekt finden Sie hier.
Andrea Galle, Vorständin der mkk: "An ME/CFS erkranken Frauen drei Mal so häufig wie Männer. Wir wissen, dass frauendominierten Erkrankungen leider weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird. Für eine gute Versorgung sind deshalb Forschungsprojekte wie CFS_Care so wichtig, nicht zuletzt auch, weil es die Sicht der Patientinnen und Patienten einbezieht.
Unser Ziel ist es, Erkenntnisse zu gewinnen, was Erkrankte im Rahmen einer qualifizierten Diagnostik und für verlässliche Versorgungsstrukturen benötigen und wie hier auch Digitalisierung helfen kann, Leistungserbringende noch besser zu verzahnen. Denn dass eine Multisystemerkrankung wie ME/CFS ein multiprofessionelles Versorgungskonzept und eine intensive Zusammenarbeit aller beteiligten Ärzt*innen und Therapeut*innen erfordert, ist dabei selbstredend."
Vor allem die Versorgung der Betroffenen in Rehakliniken braucht dringend mehr Beachtung, wie Peter Pollakowski, der bei der BAHN-BKK die Abteilung Leistungen/Verträge/Sozialverfahren leitet, eindrucksvoll schilderte: "Die meisten Reha-Angebote sind für Menschen mit ME/CFS nicht geeignet. Die Behandlung in der Reha setzt oft auf Aktivierung und Bewegung. Körperliche Belastungen sind für ME/CFS-Patientinnen und -Patienten jedoch schädlich und können den Zustand deutlich verschlimmern. Dennoch werden viele von ihnen in Reha geschickt. Sei es, weil Ärztinnen und Ärzte es nicht besser wissen oder weil die Betroffenen ohne Reha-Aufenthalt keine Teilrente beantragen können. Vor diesem Hintergrund brauchen wir dringend Reha-Angebote, die für Menschen mit ME/CFS geeignet sind."
"Zusätzlich zu den dringend erforderlichen Verbesserungen in der Versorgung für Menschen mit ME/CFS ist mir auch der Aspekt der Teilhabe sehr wichtig", ergänzte Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der SBK die Debatte. "Unternehmen, Schulen und Kindertageseinrichtungen können viel dafür tun, dass die Menschen nicht in ihren vier Wänden verschwinden. Im Internet äußern sich Betroffene unter dem Hashtag „MillionsMissing“. Das muss uns aufrütteln. Indem wir Home-Office- bzw. -Schooling-Angebote und Möglichkeiten zu Pausen und Rückzug schaffen, geben wir den Menschen die Möglichkeit, wenigstens in kleinen Teilen ihren Alltag weiterzuleben."
Aufklärung ist die Basis eines besseren Umgangs mit ME/CFS
Die Forderung nach einer breit angelegten Aufklärungskampagne über ME/CFS zog sich wie ein roter Faden durch die Veranstaltung. Zielgruppen einer solchen Aufklärung sind Gesellschaft und Leistungserbringende gleichermaßen. Denn das fehlende Wissen über die Erkrankung unter Ärztinnen und Ärzten führt häufig dazu, dass Diagnosen zu spät gestellt werden. Dadurch steigt das Risiko eines schweren und chronischen Verlaufs. Zudem wird die Häufigkeit deutlich unterschätzt – bei ME/CFS handelt es sich keinesfalls um eine seltene Erkrankung. Sie kommt häufiger vor als beispielsweise Multiple Sklerose (MS).
Das mangelnde Wissen über die Erkrankung in der Gesellschaft ist eine der Ursachen für die verbreitete Stigmatisierung von Menschen mit ME/CFS. Sie ist ein Verstärker des Leidens der Betroffenen, die sich oft unverstanden und nicht ernst genommen fühlen.
Die drei Vertreter*innen der Krankenkassen sahen in der nötigen Aufklärung auch eine Aufgabe für die gesetzlichen Krankenkassen. Sie bekräftigten, ihr Engagement für mehr Sichtbarkeit von ME/CFS fortzusetzen.
Auch Erich Irlstorfer, Mitglied des Deutschen Bundestages und selbst von Long-COVID betroffen, betonte eindrücklich, wie wichtig Aufklärung ist: "Als Gesundheitspolitiker lerne ich nahezu täglich Menschen kennen, die an ME/CFS erkrankt sind oder Angehörige versorgen. Jedes der vielen Schicksale macht mich betroffen und spornt mich an, weiter für die Interessen der Patientinnen und Patienten einzustehen.
Das Wissen über die Erkrankung niedrigschwellig zu verbreiten, sehe ich als zentrales Handlungsfeld. Gerade dem langen Weg zu einer Diagnose und dem fehlenden Wissen in der Ärzteschaft muss entgegengewirkt werden. Hier sehe ich uns als Politikerinnen und Politiker in der Verantwortung, diese Erkrankung aus dem Schatten herauszuholen und den Betroffenen bzw. Angehörigen Aufmerksamkeit zu geben, die sie so dringend benötigen. Im Rahmen meines Mandates werde ich mich weiterhin dafür stark machen, dass ME/CFS im Deutschen Bundestag Gehör findet."
Die Videoaufzeichnung des Expertendialogs steht auf dieser Website ab Donnerstag den 22.09. ab 14:00 Uhr zur Verfügung.
Im Überblick: Sprecherinnen und Sprecher auf der Veranstaltung
- Prof. Carmen Scheibenbogen, Leiterin des Charité Fatigue Centrums
- Erich Irlstorfer, Mitglied des Bundestages
- Sonja Kohl, Mitbegründerin der Initiativen #SIGNforMECFS und #MillionsMissing Deutschland
- Andrea Galle, Vorständin der mkk
- Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der SBK Siemens-Betriebskrankenkasse
- Peter Pollakowski, Abteilungsleiter Leistungen/Verträge/Sozialverfahren BAHN-BKK
- Moderation: Wiebke Kottenkamp, Pressesprecherin der mkk