Long Covid

Die eigentliche Covid-19-Infektion hat Claudia Ellert gut überstanden, dennoch fühlt sie sich auch Wochen danach noch nicht gesund. Die Spätfolgen, Long Covid genannt, bestimmen ihr Leben und das vieler anderer Betroffener.

Foto von Claudia Ellert

Claudia Ellert fährt Rad. Vor zwei Wochen ist sie mal wieder in den Sattel gestiegen. 20 Kilometer hat sie geschafft. "Mit 30 Minuten Pause zwischendurch", sagt sie. Danach war sie ausgepowert. Ihr Körper quittierte den Ausflug mit tagelangen Glieder- und Kopfschmerzen. "Ich muss das akzeptieren", sagt Claudia Ellert, 48. Die Gefäßchirurgin aus Wetzlar leidet an den Langzeitfolgen ihrer Sars-CoV-2-Infektion, auch "Long Covid" genannt.

Als sie im vergangenen November an Covid-19 erkrankte, machte sich niemand ernsthafte Sorgen. Ihre Familie nicht, die Freunde nicht, sie nicht. Claudia Ellert war kerngesund. Ihr Job als leitende Oberärztin am Krankenhaus forderte sie, aber sie fand immer Zeit für das Training: schwimmen, laufen, Rad fahren. In der Saison vor der Krankheit legte sie als Triathletin 5.500 Kilometer mit dem Rad zurück. "Der Sport war wichtig für mich. Ich war total fit", sagt sie. Die Infektion verlief so leicht, dass sie sie zu Hause auskurieren konnte, mit Halsschmerzen, leicht erhöhter Temperatur und schwindendem Geruchssinn. "Ich dachte, nach zwei Wochen Quarantäne stehe ich wieder im OP." Wenig in ihrem Leben ist heute, wie es war.

Die Erkenntnis, dass etwas nicht mit ihr stimmte, traf sie, als sie wieder arbeiten ging. Nach einigen Stunden am OP-Tisch sei sie so erschöpft gewesen, dass sie sich ausruhen musste. Beim Nordic Walking sei nach wenigen Hundert Metern Schluss gewesen. "Mir fehlte die Kraft, die Stöcke nach vorn zu schwingen, so müde war ich." Zwischen Weihnachten und Neujahr habe sie nicht mehr versucht, zur Arbeit zu gehen.

Claudia Ellert wollte wissen, was mit ihr los war. Sie suchte einen Kollegen auf und machte einen Spiroergometrie-Test. Bei diesem Fahrradtest wird neben der Belastung auch die Atmung getestet. Der Kardiologe erkennt die Leistungsfähigkeit von Herz und Lunge und bestimmt die Grenze der Ausdauer-Belastbarkeit. "Mein Ergebnis war niederschmetternd", sagt Ellert. Statt ihrer gewohnten Belastungsgrenze von 200 erreichte sie 60 Watt. "Das ist die Leistungsfähigkeit von Patienten mit einer Herzkrankheit."

Nach 16 Monaten Pandemie werden die möglichen Spätfolgen einer Covid-Erkrankung zunehmend klarer. Nach der eigentlichen Infektion leiden viele Patienten noch länger unter diffusen Beschwerden. Die Liste der Symptome für Long Covid ist lang. Die Weltgesundheitsorganisation hat sie zusammengetragen: Herzrasen, Schwindel, Leistungsschwäche, Gedächtnislücken, Wortfindungsstörungen, Schlaflosigkeit, das Gefühl von Nebel im Kopf. Ein Mix aus mehr als 200 Symptomen, für die sich oft keine körperlichen Ursachen finden, beschreibt die Langzeitfolgen einer Sars-CoV-2-Infektion.

Long Covid betrifft jung und alt

Tausende Erkrankte stecken in diesem Graubereich: nicht mehr offiziell an Covid-19 erkrankt, aber auch nicht beschwerdefrei. Studien aus Großbritannien zeigen, dass jeder achte Patient über deutliche körperliche Nachwirkungen klagt, die länger als 28 Tage andauern. Das Robert Koch-Institut in Berlin rechnet damit, dass zehn Prozent der Infizierten Long-Covid-Symptome aufweisen.

Es trifft Junge wie Ältere, weiß Carmen Scheibenbogen. Die Professorin leitet in der Berliner Charité die Immundefekt-Ambulanz. Seit vergangenem Sommer kommen Menschen zu ihr, die nach der überstandenen Virusinfektion unter chronischer Erschöpfung leiden.

Die Medizin kennt die chronische Erschöpfung als CFS oder auch ME/CFS, ein bislang wenig erforschtes Krankheitsbild. Neben der anhaltenden Müdigkeit klagen die Patienten über Konzentrationsstörungen, Kopf- und Gliederschmerzen, Atembeschwerden, Temperatur- und Geräuschempfindlichkeiten. Allerdings entwickelt nicht jeder, der sich nach einer überstandenen Covid-Erkrankung erschöpft fühlt, CFS.

"CFS ist eine schwere, chronisch verlaufende Erkrankung", sagt Scheibenbogen. "Die Betroffenen sind nur in sehr geringem Maße belastbar." Oft verstärkten sich die Symptome nach einer leichten Anstrengung. Manche Patienten könnten dann tagelang nur auf dem Sofa liegen. Bei manchen reiche ein strammer Spaziergang, um einen Schub auszulösen.

Scheibenbogen vermutet, dass schon jetzt Zehntausende nach einer Covid-Erkrankung von CFS betroffen sind. "Da entsteht ein Heer von kranken Menschen, die voll im Berufsleben stehen", sagt sie. Die Epidemie sei ja noch nicht zu Ende. "Ich schätze, dass wir Ende des Jahres etwa 100.000 Menschen haben, die an CFS in Folge einer Covid-Erkrankung leiden."

Frauen und jüngere Menschen trifft es oft. Wissenschaftler vermuten, dass es sich bei CFS um eine Autoimmunkrankheit handelt. "Autoimmunerkrankungen entwickeln eher die jüngeren oder mittelalten Menschen", sagt Immunologin Scheibenbogen. "Dazu passt auch, dass Frauen sehr viel häufiger betroffen sind, weil Frauen meistens ein aktiveres Immunsystem haben und deswegen auch leichter Autoimmunerkrankungen entwickeln."

mkk unterstützt Forschung

Eine Therapie für die chronische Erschöpfung gibt es noch nicht. Carmen Scheibenbogen hat ein Team zusammengestellt, um daran zu forschen. Gemeinsam wollen Neurologen, Schlafmediziner, Kardiologen, Sportmediziner, Psychologen und Physio­therapeuten ein interdisziplinäres Versorgungskonzept entwickeln. Betriebskranken­kassen unterstützen dieses Projekt des Innovationsfonds; die mkk ist als Konsortialpartnerin dabei.

Niemand kann sagen, warum das Virus bei einigen Patienten solch lange Nachwirkungen hat. Und nicht alle Langzeitbeschwerden sind so gravierend wie die von Claudia Ellert und erscheinen im Vergleich zu einer verminderten Herzleistung nahezu harmlos. Dennoch werfen auch milde Be­schwerden oft einen langen Schatten auf den Alltag der Betroffenen.

Foto von Britta Paps

Britta Paps, 53, ist im Februar an Covid-19 erkrankt. Sie habe sich bei ihrem Mann angesteckt, sagt die Buchhalterin aus Berlin. Ihr Hausarzt habe ihr erklärt, Covid-19 sei so harmlos wie eine Erkältung "und greife nicht tief in die Gesundheit ein". Heute fühlt sie sich weitgehend wieder fit. "Nur mein Geruchssinn ist verwirrt." Überall riecht Paps Zigarettenqualm. Im Wohnzimmer, in der U-Bahn, im Büro, auf der Straße. Alles schmecke nach Zigaretten. "Es ist, als wenn ich mich durch einen Aschenbecher beiße."

Es kann der Duft eines Kuchens sein, eine bestimmte Sonnenmilch oder eine Blume: Schon eine flüchtige Note regt die Fantasie an, spult Bilder vor dem inneren Auge ab, ruft Wohlbefinden hervor – oder Ekel. Kein menschlicher Sinn ist so eng mit Emotionen verknüpft wie der Geruchssinn. Die verminderte Riechwahrnehmung nach einer Covid-Erkrankung kann Monate anhalten.

Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt untersuchte Britta Paps. Er fand keine Ursache für die Geruchsstörung und riet zu starken Düften. Nun tröpfelt sie China-Öl in die FFP2-Maske oder hält sich eine Handvoll Kaffeebohnen vor die Nase. Für ihre Kollegen riecht ihr Büro wie eine Eukalyptusplantage. Sie lachen, wenn sie betrübt reagiert. "Komm, reiß dich zusammen, das wird schon", sagen sie. Britta Paps hofft, dass die Geruchsbeschwerden bald von selbst verschwinden.

Lernen mit Long Covid zu leben

Long Covid ist wie eine Pandemie in der Pandemie. Wie lässt sich darin ein Alltag finden? Claudia Ellert machte eine Reha in Berchtesgaden. "Dort habe ich begriffen, wie es wirklich um mich stand." In ein Tagebuch notierte sie ihre Belastungen und Erschöpfungssymptome. "Ich musste verstehen, dass mein Akku nie richtig voll ist und ich dafür sorgen muss, dass er nie ganz leer wird." In der Klinik lernte sie zu erkennen, wie viel Energie sie habe, und nur diese zu nutzen.

In der Reha absolvierte Ellert ein vierwöchiges Programm aus Kursen für Atemtechnik, Yoga, Entspannungsübungen, Meditation und Ergotherapie. Die Therapie habe sie nicht geheilt, sie habe aber gelernt, mit Long Covid zu leben, sagt die Ärztin. Inzwischen kann sie ein, zwei Stunden spazieren gehen, dafür reicht die Kondition wieder. Wenn sie einen Wunsch frei hätte? "Im Sommer wieder mal richtig Rad fahren."

Claudia Ellert setzt sich neue Ziele – als Sportlerin und als Ärztin. Operationen überlässt sie ihren Kollegen und Kolleginnen in der Klinik. Sie möchte sich auf die Behandlung von Long-Covid-Patienten spezialisieren und ein ambulantes Zentrum eröffnen. Der Bedarf ist da. Und Claudia Ellert weiß, welche therapeutischen Ansätze einen Erfolg versprechen.

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Hilfe für Betroffene von Long Covid

Die Folgeerscheinungen einer Covid-19-Erkrankung können vielfältig sein. Anhaltender Geruchsverlust, Luftnot beim Treppensteigen, Konzentrationsstörungen sind nur einige davon. Viele Kliniken bieten ambulante Sprechstunden für Long-Covid-Patienten an. In den interdisziplinären Teams arbeiten häufig Hals-Nasen-Ohren-Ärzte zusammen mit Kardiologen, Psychiatern, Neurologen und anderen Therapeutinnen und Therapeuten. Zunehmend bilden sich auch Selbsthilfegruppen zum Thema.

Wichtige Adressen finden Sie im Internet unter
langzeitcovid.de

Wer eine Reha zur Bewältigung der Langzeitfolgen beantragen möchte, kann sich an die Rentenversicherung wenden: bit.ly/Covid-Reha

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